Collage, Rutenfranz/Würgert, 2021
› vorstellung ‹
Esther Rutenfranz, Doris Maximiliane Würgert
Eröffnung / OPENART
Freitag, 11. September, 18–21 Uhr, Samstag, 12. / Sonntag, 13. September, 11–18 Uhr
Ausstellungsdauer
12. September 2020 bis 13. Februar 2021
Salonprogramm / SonicSolo
Samstag, 31. Oktober 2020, 21 Uhr
Sophie Lücke, Kontrabass, Magdalena Hoffmann, Harfe
Werke von Richter de Vroe, Saunders, Pritchard, Werani (UA)
SonicSolo • MGNM @ BELLEPARAIS wird gefördert vom Kulturreferat der LH München
vorstellung – Esther Rutenfranz und Doris Maximiliane Würgert spielen mit der Mehrdeutigkeit des Titels: 'vorstellung' bezieht sich auf die Tatsache, daß BELLEPARAIS sich diesen Herbst das erste Mal im Rahmen der Open Art und als Mitglied der Initiative Münchner Galerien zeitgenössischer Kunst vorstellt. Andererseits, was auch immer Doris M. Würgert oder Esther Rutenfranz schaffen, letztlich geht es in ihrer beider Werk um das eigene und fremde Vorstellungsvermögen. So unterschiedlich die Künstlerinnen arbeiten, so ähnlich öffnen sie die Grenzen des sichtbaren Bildraums. Hintergründigkeit und scharfsinnige Destabilisierung vermeintlich sicherer Lesarten steht für das Werk beider Künstlerinnen zentral. Befragt werden die Bilder vor sich – vor Augen und im Kopf. Letztlich landet jeder, der Denken und Sinnlichkeit gleichermaßen schätzt, im eigenen Erfahrungsraum und bei seiner Abenteuerbereitschaft, Gewißheiten zu hinterfragen und Horizonte zu überschreiten.
Esther Rutenfranz gräbt an den Schnittstellen von Innen- und Aussenwelt nach quasi-natürlichen Verbindungen. In nahezu akribischer Wiedergabe erfaßt sie das bildlich Mögliche dessen, was sie sieht. Dabei entstehen annähernd naturgetreue Pflanzendarstellungen in Ölkreide auf Holz. Es sind figurative und zugleich abstrakte Kompositionen, die formal in derartige Beziehungskonstellationen gesetzt werden, dass sich das organische Gebiet von Flora und Fauna um das menschlich-persönliche zu erweitern scheint.
Ihre Darstellungen weit aufgeblühter Pfingstrosen etwa beinhalten explosionsartige Situationen aus farbigem Pigment. Sie lassen ein haptisches Spannungsverhältnis zwischen zärtlicher Betrachtung und Pigment fokussierter Abstraktion entstehen und verhelfen der alten Frage nach der Vorherrschaft von Disegno oder Pittura zu neuer Unentschiedenheit.
Blumen- und Landschaftsdarstellungen in Schein und Sein zu differenzieren, endet in einer frappierenden Auseinandersetzung mit Doppelbödigkeit, Selbstironie und kollektiver Erinnerung in zuweilen altmeisterlich anmutenden Zeichnungen. Ihre Baum- und Pflanzenportraits entstanden draußen oder „vor dem Objekt“ mit verschieden harten bzw. weichen Ölpastellkreiden oder mit dunkelblauem Farbstift. Auf der grünen Wand in BELLEPARAIS fügen sie sich zu einem größeren Gesamtbild.
"Eine Ausstellung ist immer auch ein Wahrnehmungsraum, in dem der Besucher in den Erlebensraum des Künstlers eintritt. Dieser Wahrnehmungsraum ist bei mir oft ein assoziativer. Verschiedene Untersuchungsstränge treffen sich dort. Bilder von Menschen, Bäumen, Blüten, Steinen sind Porträts. In ihnen versuche ich, mein Gegenüber nachzuvollziehen." (E.R.)
Als Vorlage für ihre Arbeit aus der Serie Realkristall diente ein halbrunder Labradorit mit 3 cm Durchmesser. Mit dem Terminus 'Realkristall' beschreibt man in der Mineralogie eine Form von Kristallgitterbildung, die sich durch Störungen der Regelkonformität ausgezeichnet. Im Gegensatz dazu steht der Idealkristall, der in der Natur nicht vorkommt, sondern ein theoretisches Modell einer Gitterstruktur ohne Abweichungen ist.
Im hinteren Raum trifft man auf eine Bauplane, auf der eine rückwärtig beleuchtete übergroße Bleigießfigur zu sehen ist. Esther Rutenfranz schreibt dazu: "Traditionell versucht man, in diesen Formen Prognosen für das kommende Jahr abzulesen: Der Ungewissheit des Kommenden wird versucht, mit einer etwas archaischen Entschlossenheit oder Neugierde zu begegnen."
Doris Maximiliane Würgert regt mit ihren Fotografien die kriminologische Seite des Betrachters an, sich auf ein unerschließbares Gebiet aus Realität und Fiktion zu wagen. Sei es ein Zimmerinterieur mit aufgewühltem Bett und zu vielen Pantoffeln oder eine Situation in der Ästhetik der Leere eines Edward Hoppers aus dem Whitney Museum in New York, meist sind es Räume, in denen Menschen vorwiegend durch Spuren oder in Form von Platz haltenden Möbelstücken zu sehen sind. Doris M. Würgert interveniert in die Bildwirklichkeit der Fotografie und befragt die Wahrnehmung von vermittelter Wirklichkeit. Sie irritiert jeden, der vorschnell zu erkennen glaubt, was er sieht derart, dass der sich irgendwann zu fragen beginnt, was er denn eigentlich gesehen hat und schließlich nicht einmal mehr sicher ist, ob er es mit Malerei oder Fotografie zu tun hatte. Die Sesselsituation mit Blick durch eine große Panoramascheibe auf die Skyline Manhattens hält der Gewissheit nicht lange stand. Allein die Lichtsituation macht mißtrauisch. Manhatten ist nur gefühlt Manhatten. Doris M. Würgert komponiert und arrangiert Material und Indizien so, dass kulturelle Bilder atmosphärisch angesprochen werden, Verstand und Gefühl ihre Territorien aber neu verhandeln müssen.
Im vermeintlich erzählerischen Bewegtbild ihrer Videoarbeiten funktioniert die Narration dann, wenn man alle bequemen Konsumerwartungen in den Wind schießt. Die relevante Geschichte ereignet sich in der Vorstellungswelt des Betrachters. Im Fall von Träumen gerät man in die Bredouille, dass das Erlebnis und der Versuch, es in linearer Form wiederzugeben, höchstens in die unbeabsichtigte Mitteilung von Psychogrammen führt, aber a priori zum Scheitern verurteilt ist. Doris M. Würgert komponiert derartige Momente als nüchterne Traum-Protoypen. n.o.T. heißt ihre aktuellste Videoproduktion – ein fragmentarischer Psychothriller aus Ton und Bild. In ihrem Video weg (2013) nimmt sie uns mit auf eine Busreise in schnellen Bildern durch einen Tunnel. Doch wie auch dieser Titel in seiner Eindeutigkeit schwankt, begeben wir uns in ein inneres Roadmovie durch einen Tunnel aus Assoziationen, obwohl es die immer gleichen Bildsequenzen aus Busfahrt und Waldbildern sind, denen wir begegnen. Der Ton macht die Musik und lenkt die Wahrnehmung. In Rückblick aus dem Jahr 2030 (2017) verschränken sich Ton und Bild mit Zitaten aus Film und Literatur zu einem Erinnerungspool, aus dem der Betrachter seinen Film in Zeitsequenzen schneidet. Die Einteilung in Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit ist aufgehoben. Der Cutter der Erinnerung läßt ganz wie im wahren Leben von Objektivität wenig übrig. Auch wenn man noch so sehr bemüht ist, durch Festhalten von Abläufen Realität zu erzeugen, existiert sie eben nur in der Gegenwärtigkeit multifaktorieller Gleichzeitigkeit von inneren und äußeren Vorgängen. An diesen real existierenden Diskrepanzen des Kontexts beißen sich Chronisten, Jurisdiktion und Wissenschaft seit Menschen Gedenken die Zähne aus.
Doris M. Würgert nimmt es mit Tiefsinn und Humor. In ihrem wohl kürzesten Video schön (2016) gerät die Spieluhr-Figurine vor dem Spiegel aus dem Takt und fällt aus der Rolle. Anstatt sich adrett vor dem Spiegel zu drehen, schleudert der defekte Federmechanismus sie wild hin und her.
Julia Lachenmann
Ausstellungsansichten "vorstellung", Fotos: D. M. Würgert
D. M. Würgert, Videoinstallation schön, 2016, 38'', E. Rutenfranz o.T. (Sylvester), 2003, Lack und Tuschestifte auf Bauplane, 296 x 196 cm, und o.T. (Esther und Maria), 2017, Acryl und Lack auf Leinwand, 50 x 40 cm
E. Rutenfranz, o.T. (Esther und Maria), 2017, Acryl und Lack auf Leinwand, 50 x 40 cm und Agapanthus, 2020, Ölkreiden und Acryl auf Holzplatte, 60 x 80 cm
E. Rutenfranz, Labradorit, 2014, Plakatabrisse Klebeband, Tusche, Acryl auf Transparentfolie, Durchmesser: 182 cm, (auf dem Tisch:) Waldrand, 2020, Farbstift, Ölkreide auf lasierter Holzplatte, D. M. Würgert, Videoinstallationen weg, 2013, 6'59'', Der Wald, 2016, 3'26'', Rückblick aus dem Jahr 2030, 2017, 8'18'', Esther Rutenfranz, o.T. (Esther und Maria), 2017
E. Rutenfranz, aus der Serie Tagesreste: Sylvester, 2004, Tusche und Lackstift auf Transparentpapier, 29, x 42 cm und D. M. Würgert, NY_W1, 2016/2020, Fineartprint, 70 x 100 cm, 5+2AP
D. M. Würgert, NY_W1, 2016/2020, Fineartprint, 70 x 100 cm, 5+2AP und schön, Videoinstallation, 2016, 38''